Wir sind also inzwischen im reinen Süßwasserbereich angelangt, und damit stellt sich die Frage, was das jetzt noch mit dem Meer zu tun hat. Die Antwort ist: Sehr viel, denn die Gezeiten im Meer hindern bei jeder Flutperiode die Flüße abzufließen. So kommt es im Unterlauf der Flüße durch Rückstau zur Ausbildung einer Süßwassertideaue. Bei besonders stark ausfallenden Gezeiten, den Springtiden, kann es sogar soweit kommen, daß der Flutpegel des Meeres höher liegt als der Wasserspiegel der Flußunterläufe, so daß Wasser einströmt und die Flüße dann für ein paar Stunden flußaufwärts fließen!
Die Wälder auf den Sanden der Süßwasser-Tideaue ähneln stark denen der Weichholzaue in tidefreien Flußbereichen des Binnenlandes. Wichtigster Baum ist hier die Weißweide (Salix alba, beide Bilder oben); dazu kommt die Schwarzpappel (Populus nigra, links und unten rechts). An den Rändern siedeln sich neben strauchigen Weiden (Salix fragilis und S. triandra) Weißdorn an (Crataegus oxyacantha, rechts), überzogen von Wildem Hopfen (Humulus lupulus, auch rechts), der sich jedes Jahr wieder auf's Neue an seinen abgestorbenen Ranken vom Vorjahr hinauf windet.
Ein Elbsand bei Ebbe. Bei Flut reicht das Wasser bis an die grünen Teile des Schilfs.
Die Auwälder waren von Natur aus nicht überall dicht geschlossen, sondern hatten Lücken, die einerseits - wie bereits beschrieben - auf Vogelkolonien zurückgehen konnten, andererseits aber auch auf die Arbeit des Bibers (Castor fiber, unten), der einmal in diesen Tideauen häufig war und sich mit seinen Dämmen Stauteiche anlegen konnte, die damit dem Steigen und Fallen der Tiden entzogen wurden. Dazu und um sich von jungen Trieben zu ernähren, legte er große Mengen Weiden und Pappeln um. Wie damals wachsen auf Freiflächen Wiesen und Hochstaudenfluren, in denen man unter anderem die Kohldistel (Cirsium oleraceum, oben links) und den Wasserknöterich (Persicaria amphibia, links) findet.
Vorherrschend ist hier die Große Brennnessel (Urtica dioica, unten links), die sowohl im Schatten der Weidenwälder als auch unter freiem Himmel gedeiht. In neuerer Zeit kommen einige Riesenstauden dazu. Diese stattlichen Stauden bereichern die Landschaft mit ihren schönen Blüten, sind aber andererseits außerordentlich konkurrenzkräftig und dringen unverdrossen in die ursprünglich recht einförmigen Brennnesselfluren ein. Das erscheint natürlich suspekt, und deshalb werden diese prächtigen Pflanzen als aggressive Invasoren angesehen.
Es handelt sich dabei in der Regel um Pflanzen, die aus Überschwemmungsauen von Flüßen mit starken jahreszeitlichen Wasserschwankungen stammen. Dort breiten die Fluten nährstoffreichen Schlamm über die Aue, der den Riesenwuchs dieser Stauden überhaupt erst ermöglicht. Solche Pflanzen sind zum Beispiel das Drüsige Springkraut (Impatiens glutinosa, oben links) aus dem Vorland des Himalaya, der Topinambur (Helianthus tuberosus, oben mittig), eine als Wildfutterpflanze angebaute Sonnenblume aus Nordamerika, die Riesengoldruten (Solidago gigantea und S. canadensis, beide Bilder unten) und der Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum, oben rechts) aus dem Umland des Kaukasus. Womit decken diese Stauden ihren extremen Nährstoffbedarf in unserer Landschaft? Mit den Überschüssen aus landwirtschaftlicher Düngung und dem abregnenden Stickstoff aus Abgasen - hatten wir an anderer Stelle schon... - Statt also diese Pflanzen zu verteufeln und teure, aber längst nutzlose Ausrottungsprogramme zu starten, sollte man lieber das eigene Verhalten überdenken. Bei geringerer Stickstoffvergiftung unserer Umwelt würden diese Pflanzen schnell ihre Konkurrenzkraft verlieren und ihre Bestände auf ein erträgliches Maß schrumpfen.
Aber auch in Senken, durch die kein Wasserlauf geht, macht sich die Tide bemerkbar, selbst dann, wenn der sandige Uferwall keine Lücke hat, durch die das Rückstauwasser eindringen kann. Bei Hochwasser im Fluß quillt sogenanntes Qualmwasser aus dem Boden hoch, das durch den Grundwasserdruck empor gepreßt wird. Auch in solchen Senken siedelt Schilf (Phragmites communis) nur am Rand (oben links), während die tieferen Teile vom Großen Wasserschwaden (Glyceria maxima, beide Bilder oben) eingenommen werden. Dazu gesellt sich oft das Sumpfkreuzkraut (Senecio paludosus, rechts), eine an große Flußauen gebundene Pflanze.
In Bereichen, wo sich noch ein schwacher Salzeinfluß bemerkbar macht, findet man an solchen Stellen statt der Seesimse die Salzsimse (Schoenoplectus tabernaemontani,rechts) mit ihren bläulicheren Halmen. Noch tiefer als die Igelkolben- und Simsenröhrichte breiten sich Watten aus. Auf solchen Schlammflächen erscheinen in manchen Jahren Massen des weißfilzigen Moorkreuzkrautes (Senecio congestus, unten), in anderen Jahren aber nicht. Warum diese Pionierpflanze so unbeständig auftritt, bleibt vorerst ihr Geheimnis.
An der flußabgewandten Seite der Uferwälle finden wir Nebenarme des Flußes und Senken mit Schlick (links). Auch hier wächst an den Rändern Schilf, das dringt jedoch in Gebieten mit starker Tide nicht einmal die Mittelwasserlinie erreicht. Seesimse (Schoenoplectus lacustris, unten) und Ästiger Igelkolben (Sparganium erectum, unten links) sind in der Lage, in sehr viel tieferem Wasser zu wachsen als Schilf, und so nehmen sie auch in den Süßwassertidegebieten eine tiefer liegende Zone als die Schilfröhrichte ein (linkes Bild: vorne Seesimse, rechts vorne Igelkolben, dahinter Schilf).
Dem Fluß zugewandt, wachsen oberhalb der Sandstrände Schilfröhrichte mit hohem Anteil von Sumpfdotterblumen, wie wir das schon von der Brackwasserzone kennen. Hier in der reinen Süßwasser-Tidemarsch finden wir erstaunlicherweise aber auch ein paar Spezialisten, die es ausschließlich nur hier gibt. Dazu gehören die Wibelsche Schmiele (Deschampsia wibeliana, rechts und links) und der Schierlings-Wasserfenchel (Oenanthe conioides, beide Bilder unten).
Eine auffallende Pflanze in diesen Weichholzauen ist der Baldrian (Valeriana excelsa, oben links), den man hier vielleicht gar nicht erwarten würde, weil er Böden mit höheren Kalk- und Basengehalten bevorzugt. Hier spielt wohl eine wictige Rolle, daß sich bei jeder Flut aus dem Flußwasser neuer Schlamm ablagert (unten rechts), dessen Mineralgehalt dann den Pflanzen zu Gute kommt.
Erst archäologische Ausgrabungen an alten Siedlungsplätzen haben Beweise erbracht, daß auf den höheren Stellen der Flußsande auch Hartholz-Auwälder aus Eichen (Quercus robur), Ulmen (Ulmus laevis, oben links), Eschen (Fraxinus excelsior) und oft auch Hainbuche (Carpinus betulus) und Weißdorn (Crataegus oxyacantha) vorkamen, mit deren ehemaliger Existenz niemand gerechnet hatte. Heute gibt es diesen Waldtyp an der Küste nicht mehr; die nächsten Standorte liegen im Wendland, woher auch das Bild stammt (oben rechts: mit Hochwassermarken an den Stämmen). Solche Wälder waren sicher auch die Heimat von Elchen (Alces alces, links), die wie Wildschweine auch mit spreizbaren Füßen hervorragend an Sumpfböden angepaßt sind. Die nacheiszeitliche Existenz von Elchen bis in die Niederlande ist ebenfalls durch archäologische Funde belegt.