Mit diesen wenigen Zeilen ist es Theodor Storm gelungen, die Faszination des Wattenmeeres zu erfassen, eines Gebietes, das auf den ersten Blick nichts als trübes Wasser und endlose Schlammflächen ausmacht, dann aber doch fast jeden in seinen Bann schlägt. Der hohe Himmel, der weite Horizont und das wechselnde Spiel von Licht und Wolken lassen kaum jemanden unbeeindruckt, und wir übersehen nur allzu gerne, daß wir keineswegs vor einer unberührten, aus Urzeiten auf uns überkommenen Wildnis stehen, sondern daß Viehwirtschaft, Fischerei, Industrie, Verkehr, Badetourismus, Landgewinnung und Küstensicherungsmaßnahmen dieser so abgeschieden wirkenden Landschaft ihren Stempel aufgeprägt hat.
Vor knapp 2000 Jahren wurden die ersten Wurten angelegt, um den zunehmenden Überflutungen entkommen zu können. Seit gut 1000 Jahren wurde die gesamte Küste zunehmend eingedeicht und damit dem Wattenmeer mehr und mehr Fläche entzogen. Vor allem wurde der allmähliche Übergang zu festländischen Lebensräumen unterbrochen und statt dessen mit den Deichen scharfe Grenzen gesetzt. Wie weitgehend, läßt die Kartenskizze (links) erahnen, die auf der Basis der heutigen Küstenlinien zeigt, welche Räume in etwa dem Wechselwirken zwischen Land und Meer unterworfen wären, wenn es keine menschliche Einflussnahme geben würde.
Angesichts des Zwangs, sich immer weiter vor dem nachrückenden Meer zurück ziehen zu müssen, muß man wohl damit rechnen, daß sich der Bevölkerungsdruck der Menschen von Anfang an schon stets am Rande der Tragfähigkeitsgrenze bewegte. Sie dürften wohl bald die Großtierarten dezimiert und ausgerottet haben. Ansonsten könnten sich die Einflüsse der Menschen auf den Naturraum in Grenzen gehalten haben, solange sie das Gebiet als Jäger, Fischer und Sammler nutzten. Seit etwa 5500 Jahren gibt es in Nordwesteuropa jedoch erste Anzeichen für Ackerbau und Viehzucht; das heißt, mehr oder weniger zeitgleich mit der beginnenden Formung des heutigen Wattenmeeres und seiner Marschen. Von da an begannen ernsthafte Waldzerstörung und Beweidungsschäden. Wie weit sich unter diesen Umständen natürliche Lebensräume herausbildeten, kann man mit Sicherheit nicht sagen.
Tatsächlich hat es ein von menschlichen Einflüssen freies Wattenmeer nie gegeben. Das Wattenmeer und die ganze Nordsee, so wie wir sie kennen, entstanden nach dem Rückzug des Inlandeises der Weichselzeit. Schon bevor dies geschah, lebten Menschen in Mitteleuropa und folgten den Tierherden der eiszeitlichen Steppe nach Norden bis in Gebiete hinein, die durch den nacheiszeitlichen Meeresspiegelanstieg überflutet und damit zur Nordsee wurden.
Wie aber würde solch eine Landschaft aussehen?